Veranstaltung: | SPD Thüringen Landesparteitag 2025 |
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Tagesordnungspunkt: | 8 Antragsberatung und Beschlussfassung |
Antragsteller*in: | AfA Thüringen |
Status: | Eingereicht |
C4: Grundsicherung verlässlich gestalten: Schutz, Qualifizierung, Arbeit
Antragstext
Die Sozialdemokratie misst ihren Erfolg daran, ob Menschen selbstbestimmt leben,
an der Gesellschaft teilhaben und gute Arbeit finden können. Bereits 2016 hat
die SPD Thüringen hierzu eine klare Linie beschlossen: Das Aktivierungsparadigma
mit seinen Zwangselementen – gerade gegenüber Langzeitarbeitslosen – ist nicht
zielführend; das Verhältnis von Fördern und Fordern ist asymmetrisch. Die
Leitlinie lautet seitdem: weg vom reinen Aktivieren, hin zum Befähigen –
Autonomie stärken, Handlungsmöglichkeiten erweitern, echte Teilhabe sichern.
Diese Linie steht im Einklang mit dem Grundsatzprogramm der SPD vom vorsorgenden
Sozialstaat: Er organisiert Solidarität, sichert Übergänge im Lebenslauf,
ermöglicht Qualifizierung und eröffnet Chancen auf gute Arbeit – statt Menschen
unter Druck zu setzen. Deshalb bleibt für uns festzuhalten:
- Erwerbslose sind Teil der Arbeitnehmer:innenfamilie. Die Grundsicherung
nach SGB II ist Schutznetz in Erwerbsverläufen – beim Aufstocken, bei
Krankheit, Pflege, Erziehung, Qualifizierung. Zu niedrige Leistungen in
Kombination mit der Pflicht, „jede Arbeit“ anzunehmen, schwächen die
Verhandlungsmacht aller Beschäftigten und befördern Geschäftsmodelle mit
schlechter, prekärer Arbeit. Diese Erfahrung haben wir aus der Hartz-Zeit
gelernt.
- Mehr Druck erzeugt Lohndruck. Ein Vermittlungsvorrang „um jeden Preis“
drängt Menschen in beliebige, häufig unqualifizierte Jobs und zementiert
Prekarität, statt soziale Aufstiege über Qualifizierung zu ermöglichen.
- Lebenslagen ernst nehmen. Knapp bemessene Regelbedarfe,
Verschuldungsrisiken und die Angst vor Wohnungsverlust untergraben
Integrationsbemühungen und Abschlussorientierung. Eine Grundsicherung, die
trägt, erleichtert Bewerbungen, Umschulungen und Qualifizierungen – das
ist Kern unserer sozialdemokratischen Teilhabepolitik.
- Lohnabstand richtig verstehen. Problematisch sind hohe Anrechnungsquote
(Leistungsabzug auf andere Sozialleistungen bei Mehrverdienst) in der
Kombination von Leistungen (z. B. Wohngeld/Kindergeldzuschlag), nicht „zu
hohe“ Regelsätze. Unsere Antwort sind Tarifbindung, ein armutsfester
Mindestlohn, Tariftreue und Qualifizierung – nicht Armutsdruck.
Vor diesem Hintergrund fordern wir:
I. Leitprinzipien der Weiterentwicklung
- „Vom Aktivieren zum Befähigen“ als leitendes Prinzip der Grundsicherung
bekräftigen: individuelle Förderung, echte Qualifizierungspfade und
Anerkennung von Übergängen statt pauschaler Sanktionslogik.
- Vorsorgenden Sozialstaat stärken: Übergänge (Weiterbildung, Erziehung,
Pflege, Engagement) als gesellschaftlich nützlich anerkennen und
verlässlich absichern; Ziel ist Selbstbestimmung durch Qualifikation und
Zugang zu guter Arbeit.
II. Leistungen armutsfest und vorausschauend gestalten
- Regelbedarfe anheben und die Berechnungsmethode reformieren (realistische
Warenkörbe für Mobilität, Kommunikation, Bildung/Teilhabe);
vorausschauende Dynamisierung an die tatsächliche Teuerung sicherstellen –
Teilhabe statt Mangel.
- Freibeträge und Zuverdienstgrenzen verbessern und die Anrechnungsquote
(Leistungsabzug bei Mehrverdienst z.B. bei Wohngeld/Kindergeldzuschlag)
wirksam senken, damit Mehrarbeit spürbar lohnt – Anreize ohne Armutsdruck.
- Karenzzeiten und Schonvermögen stabilisieren, um Lebensleistung zu
schützen und Vertrauen zu sichern; insbesondere Schutz der angemessenen
Wohnkosten in der Karenz.
III. Qualifizieren statt kürzen
- Vorrang nachhaltiger Qualifizierung (Ausbildung, Teilqualifizierung,
Berufsabschluss) vor kurzfristiger Vermittlung in unqualifizierte
Beschäftigung rechtlich, finanziell und organisatorisch absichern.
- Sozialen Arbeitsmarkt entfristen und solide finanzieren: öffentlich
geförderte, gemeinwohlorientierte Beschäftigung dauerhaft als Brücke in
und als Alternative zur ersten Erwerbsarbeit bereitstellen – mit engen
kommunalen Partnerschaften.
- Weiterbildungsprämien sichern und ausbauen; individuelle Betreuung und
Coaching stärken – mehr Zeit pro Fall, verlässliche Eingliederungstitel,
keine Mittel-Kürzungen zulasten der Integration.
IV. Rechte wahren, Verfahren vereinfachen
- Sanktionen nur als Ultima Ratio, strikt grundrechtskonform; das physische
und soziokulturelle Existenzminimum bleibt unantastbar. Rückkehr zum
kooperativen Ansatz statt Abschreckungsregime.
- Digital vereinfachen („One-Stop-Shop“): Eine zentrale, nutzerfreundliche
Plattform mit Einmal-Dateneingabe und automatischer Anspruchsprüfung
(Bürgergeld/Wohngeld/Kindergeldzuschlag) – Anträge vereinfachen, klare
Sprache, schnelle Bearbeitung.
- Entstigmatisierung und Faktenorientierung: Offensive gegen Populismus und
Mythen; transparent darstellen, wer Leistungen bezieht und warum;
Erwerbslose gehören programmatisch zur Arbeitnehmer:innenfamilie.
V. Arbeitsmarkt und Tarif stärken – Druck aus Beschäftigung nehmen
- Tarifbindung, armutsfester Mindestlohn, Tariftreue ausbauen; Mitbestimmung
stärken; prekäre Beschäftigung regulieren. So entstehen faire Löhne –
nicht durch Druck im Sicherungssystem.
Begründung
Begründung:
Die SPD Thüringen hat 2016 den Paradigmenwechsel „Befähigen statt Aktivieren“ beschlossen, weil Zwangselemente in der Grundsicherung insbesondere bei Langzeitarbeitslosen regelmäßig an den Lebensrealitäten vorbeigehen und Integration erschweren. Die Zielsetzung einer armutsfesten Sicherung und qualifikationsorientierten Eingliederung ist doppelt wirksam: Sie stabilisiert Lebenslagen – und sie erhöht die Chancen auf nachhaltige, ordentlich bezahlte Beschäftigung.
Erwerbslose sind keine „Außenstehenden“, sondern Teil der Arbeitswelt und ihrer Übergänge. Eine Grundsicherung, die (a) Regelbedarfe realistisch bemisst, (b) Karenzzeiten und Schonvermögen schützt und (c) Zuverdienst fair ermöglicht, verhindert Abstiege und schafft Vertrauen. Menschen nutzen Chancen eher, wenn sie nicht mit existenziellen Risiken (Schulden, Wohnungsverlust) konfrontiert sind. Genau deshalb verlangt sozialdemokratische Politik Teilhabe statt Mangel – nicht nur moralisch, sondern arbeitsmarktpolitisch klug.
„Mehr Druck“ senkt nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Verhandlungsmacht der Beschäftigten insgesamt. Ein absoluter Vermittlungsvorrang drängt in Jobs, die selten Qualifizierung und Aufstieg ermöglichen. Das Resultat ist Prekarität, die am Ende teuer ist: für Individuen, für öffentliche Kassen und für das Vertrauen in staatliche Institutionen. Der Befähigungsansatz zielt demgegenüber auf Qualifikation mit Abschluss und auf Gute Arbeit – flankiert von Tarifbindung und Mitbestimmung, armutsfesten Mindestlohn und Tariftreue.
Die häufig ideologisch aufgeladene „Lohnabstands“-Debatte greift zu kurz. Entscheidend sind Anrechnungsquoten über Leistungssysteme hinweg. Wer mehr arbeitet, soll netto spürbar mehr haben – ohne das Sicherungssystem zu entwerten. Das gelingt mit besseren Freibeträgen, abgestimmten Schnittstellen (Wohngeld/Kindergeldzuschlag) und digitaler Vereinfachung (One-Stop-Shop), nicht mit Kürzungen, die vor allem Lohndruck aufbauen.
Der vorsorgende Sozialstaat ist kein „Schonraum“, sondern eine Investition in Freiheit und Würde – und in die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Er organisiert Solidarität, schützt vor Brüchen, macht Weiterbildung möglich und stärkt damit Produktivität und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist Kern sozialdemokratischer Politik seit jeher.
Die im Koalitionsausschuss skizzierten Schritte zur „Neuen Grundsicherung“ – Sanktionsverschärfungen bis zur Leistungseinstellung, Karenzabschaffung und ein absoluter Vermittlungsvorrang – kehren wesentliche Fortschritte in ihr Gegenteil um und untergraben die Glaubwürdigkeit unserer Sozialpolitik. Statt Vertrauen zu schaffen und Qualifizierung zu ermöglichen, drohen Angst, Entwertung von Lebensleistung und Verstetigung prekärer Beschäftigung. Das schwächt am Ende auch Tarifpolitik und Gute Arbeit – und damit genau das, was Löhne hebt und soziale Aufstiege ermöglicht.
Wer Menschen befähigt, statt sie unter Druck zu setzen, stärkt Beschäftigte insgesamt, fördert Qualifizierung und verhindert Lohndruck. Deshalb braucht es eine Grundsicherung, die trägt – armutsfest in der Leistung, sanktionsarm in der Logik, umsetzungsstark durch eine gut ausgestattete Sozialverwaltung – und eine Arbeitsmarktpolitik, die Tarifbindung, Mitbestimmung und Gute Arbeit ausbaut.
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