Veranstaltung: | SPD Thüringen Landesparteitag 2025 |
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Tagesordnungspunkt: | 8 Antragsberatung und Beschlussfassung |
Antragsteller*in: | Jusos Thüringen |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 14.10.2025, 09:21 |
J4: Freistaat statt Überwachungsstaat, Pogo statt PAG!
Antragstext
In der aktuellen Legislatur will die Brombeer-Koalition das Thüringer
Polizeiaufgabengesetz (PAG) novellieren. Das Polizeirecht bewegt sich stets in
einem sensiblen Spannungsfeld zwischen Eingriffsbefugnissen der Polizei und
Grundrechtseingriffen der betroffenen Bürger:innen. Es braucht eine sorgfältige
Abwägung zwischen Eingriffsmaßnahmen und Grundrechtsschutz, zwischen Sicherheit
und Freiheit. Diese Abwägung ist zentrales Kernelement unseres demokratischen
Rechtsstaats. Eingriffsbefugnisse dürfen nie nur aus der Perspektive und
Binnenlogik der Sicherheitsbehörden erlassen werden. Der verfassungsrechtlich
gewährleistete Grundrechtsschutz der Bürger:innen steht stets an erster Stelle.
Polizeiliche Befugnisse müssen deswegen stets dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Demnach müssen sie zur Gefahrenabwehr
erforderlich, geeignet und angemessen sein.
Der nun vorliegende Entwurf des Innenministeriums zum PAG steht mit diesem
Grundsatz nicht in Einklang. Durch die Einführung neuer, sehr
eingriffsintensiver Maßnahmen werden die Eingriffsmöglichkeiten in die private
Freiheit der Menschen tiefgreifend erweitert. Durch die Vorverlagerung
polizeilichen Handelns im Rahmen der Gefahrenabwehr werden polizeiliche
Befugnisse unverhältnismäßig weit in die private Lebenssphäre der Bürger:innen
ausgeweitet.
Die Notwendigkeit der Eingriffe, ihre Verhältnismäßigkeit und damit ihre
verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit werden vom Entwurf nicht dargelegt.
Wir erkennen die Notwendigkeit der Novellierung des Thüringer
Polizeiaufgabengesetzes an, denn tatsächlich steht die Thüringer Polizei vor
anderen Herausforderungen als zur Erstverabschiedung im Jahr 1992. Dennoch
stellen die Veränderungen in der Polizeiarbeit keinen legitimen Grund dar, einen
Überwachungsstaat durch die Hintertür zu errichten. Wir fordern daher die
Landesregierung auf, sich von den im bisherigen Gesetzentwurf angelegten
Maßnahmen zu distanzieren. Insbesondere die folgenden Aspekte lehnen wir vor dem
Hintergrund der ernstzunehmenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit kategorisch
ab:
- Einführung präventiv polizeilicher elektronischer Fußfesseln
- Einführung von KI-gestützte Video-Kameras im öffentlichen Raum
- Einführung von Elektroschockwaffen
- Einführungen von Meldeauflagen in Verdachtsfällen
- Einführung von digitaler Rasterfahndung
- Einführung von Gesichtserkennung und Stimmenabgleich
- Einführung von Kennzeichenüberwachung
1. Einführung präventiv polizeilicher elektronischer Fußfesseln
Die Landesregierung plant die Einführung der Aufenthaltsüberwachung mittels
elektronischer Fußfesseln. Durch sie sollen Beschuldigte einer Straftat, also
Menschen, gegen die ein Verdacht der Begehung einer Straftat besteht, überwacht
werden können.
Die Fußfesseln sollen 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche die Überwachung
über eine Dauer von 14 Tagen bis drei Monaten ermöglichen. Durch diese Maßnahme
wird massiv in das Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 GG
eingegriffen. Die betroffene Person verliert durch die Maßnahme ihre
Privatsphäre, es wird in die Bewegungsfreiheit eingegriffen und all das, ohne
dass ein Urteil oder ein Schuldnachweis vorliegt. Es wird dadurch eine
strafähnliche Sanktion gegen die Person erlassen, ohne dass ein Richtervorbehalt
vorgesehen ist. Damit steht die Anwendung der Maßnahme allein im Ermessen der
Polizeibeamten.
Die Landesregierung führt in der Begründung zwar aus, dass diese Maßnahme der
Bekämpfung von partnerschaftlicher Gewalt dienen soll, macht aber gleichzeitig
klar, dass es dabei nicht um den alleinigen Anwendungsbereich der Maßnahme
handelt. So droht eine hohe Missbrauchsgefahr, gegen die keine effektive
Verhinderungsmöglichkeit besteht. Das darf im demokratischen Rechtsstaat nicht
möglich sein!
Weiterhin ist nicht klar, inwiefern die Maßnahme zur Bekämpfung von
partnerschaftlicher Gewalt überhaupt geeignet ist. Wir stehen hinter dem Ziel,
partnerschaftliche Gewalt zu bekämpfen und alle politischen Mittel zu ergreifen,
um dies zu erreichen. Die Einführung der elektronischen Fußfessel, wie sie nach
dem PAG erfolgen soll, kann die Erfolge ihres spanischen Vorbilds allerdings
nicht erreichen. Während das „spanische Modell“ die betroffene Person darüber
informiert, wo sich die gewalttätige Person aufhält und dem Opfer so die
Möglichkeit einräumt, diese Orte zu meiden und die Sicherheitsbehörden bei
Annährungsversuchen frühzeitig zu informieren, sieht das Thüringer Modell eine
solche Information der betroffenen Person eben nicht vor. Es gibt keine direkte
Warnung an die betroffene Person, sondern nur an die zuständige
Polizeidienststelle, die im schlimmsten Fall nicht rechtzeitig zur Hilfe kommen
kann. Damit dient die Fußfessel nicht der effektiven Gewaltprävention im Rahmen
von partnerschaftlicher Gewalt, sondern ist vielmehr einem trügerisches
Sicherheitsversprechen.
2. Einführung KI-gestützter Video-Kameras im öffentlichen Raum
Wir stehen entschieden gegen die Einführung von Videoüberwachung im öffentlichen
Raum. Wie nationale und internationale Studien belegen, leistet Videoüberwachung
keinen nachhaltigen Beitrag zur Steigerung der Sicherheit an den überwachten
Orten und stellen keinen verlässlichen Indikator für die Kriminalitätslage oder
zur Kriminalitätsprävention dar. Sie schaffen es nicht einmal, das
Sicherheitsempfinden der Menschen vor Ort in nennenswerter Weise zu steigern.
Videoüberwachung ermöglicht außerdem keine schnelle Reaktion bei Übergriffen.
Stattdessen werden tagtägliche Tausende verdachtslos aufgezeichnet, ohne dass
Kriminalität verhindert werden kann.
Dafür werden die Verdrängungseffekte und die Stigmatisierung von Räumen als
sogenannte „gefährliche Räume“ verstärkt. Gleichzeitig nimmt an solchen Orten
wegen der vermeintlich gegebenen Sicherheitsverstärkung die Zivilcourage ab. Aus
diesen Gründen lehnen wir die Video-Überwachung im öffentlichen Raum ab.
Erschwerend kommt in dem Entwurf der Landesregierung hinzu, dass zur Auswertung
des gesammelten Materials Künstliche Intelligenz (KI) angewendet werden soll,
durch die Bewegungs- und Verhaltensmuster analysiert und sogar eine
„automatisierte Nachverfolgung“ von Personen ermöglicht werden soll. Dabei
handelt es sich um einen massiven Grundrechtseingriff, der im Widerspruch zu
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.
Algorithmen können fehlerhaft sein und je nach Trainingsmaterial reproduzieren
sie rassistische und sexistische Stereotypen, die im grundrechtssensibelen
Polizeirecht keinen Platz haben. Hinzu kommt, dass KI-Systeme eine Blackbox
sind, ihre Entscheidungsfindung ist kaum objektiv nachvollziehbar oder
überprüfbar. Da sie mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten statt auf Tatsachen zu
beruhen. Es kann nicht sichergestellt werden, dass die KI sogenanntes
„gefährliches Verhalten“ verlässlich als solches erkennen kann. Darüber hinaus
bleibt völlig in der Schwebe, was ein solches „gefährliches Verhalten“ überhaupt
sein soll. Sind es bestimmte Körperhaltungen oder Bewegungsabläufe, oder das
Zusammenstehen in einer Gruppe? Falsche positive und negative Bewertungen von
Situationen als Gefahrensituationen sind damit unausweichlich. Die sich aus den
Erkenntnissen der KI ergebenden Schlussfolgerung können massive polizeiliche
Eingriffe nach sich ziehen, die nicht zu rechtfertigen sind. Zusätzlich stellt
sich die Verantwortungsfrage: Wer trägt die Folgen, wenn die Polizei fehlerhafte
Entscheidungen basierend auf KI-Ergebnissen trifft? Wir erteilen der
Entmenschlichung der polizeilichen Entscheidungsfindung eine klare Absage!
Video-Überwachung hat keinen realen Nutzen, greift in die unbekümmerte, freie
Entfaltung der Menschen ein und widerspricht unserem Verständnis von Demokratie
und Freiheit massiv.
3. Einführung von Elektroschockwaffen
Die Landesregierung plant die Einführung von Elektroschockwaffen (sog.
Distanzimpulsgeräte) für den polizeilichen Regelbetrieb. Sie sollen durch die
Beamten mitgeführt werden, wie sie es etwa bei Schlagstöcken bereits tun.
Mittels Drähten mit Widerhaken werden elektrische Impulse in den Körper des
Getroffenen geleitet und stellen durch die hochfrequenten Schocks eine
ernstzunehmende Belastung für Herz, Nerven und Muskeln dar. Durch so einen
Schock blockieren die Muskeln sofort, sodass die betroffene Person
zusammenbricht und in Gewahrsam genommen werden kann. Elektroschockwaffen wird
nachgesagt, sie seien das mildere Mittel zum Einsatz der Schusswaffe, da sie
weniger tödlich seien. Dies ist ein Trugschluss. Häufig treten dabei neben
starken Schmerzen und schweren Verletzungen durch den unkontrollierten Aufprall,
Orientierungslosigkeit, Kreislaufprobleme oder Muskelrisse auf. Insbesondere bei
Menschen mit Vorerkrankungen am Herzen, die unter Medikamenten- oder
Drogeneinfluss stehen, zu Panikattacken neigen oder Kreislaufbeschwerden haben,
kann die Anwendung von Elektroimpulsen schwere Folgen haben, die
lebensbedrohlich sein können. Insbesondere aus den Anwendungserfahrungen in den
USA wissen wir, dass es bereits zu hunderten Todesfällen im Zusammenhang mit dem
Einsatz von Tasern gekommen ist. Auch in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
kamen bereits Menschen durch die Anwendung von Tasern im Regelbetrieb durch die
Polizei zu Tode.
Außerdem zeigen Studien, dass Polizeibeamte häufiger zur Gewalt neigen, wenn sie
ein solches Gerät bei sich führen. Allein der Besitz erhöht das
Eskalationspotential. Elektroschockwaffen sind somit kein milderes Mittel,
sondern vielmehr ein weiteres Mittel zur Gewaltanwendung gegenüber Betroffenen.
Die Einführung dieses Gerätes erscheint aber angesichts der bisher eher geringen
Anwendung durch das Thüringer SEK, das aktuell das einzige zur Nutzung
berechtigte Einsatzkommando ist, zweifelhaft. In sieben Jahren wurde das Gerät
in nur zwei Fällen angewendet, andere Einsatzmittel wurden in gefährlichen
Situationen vorgezogen. Es bestätigt sich damit auch aus der Praxis, dass
zwischen dem Einsatz von Schusswaffen und Schlagstock keine Lücke besteht,
sondern viele bereits zulässige Maßnahmen in der Praxis ebenso geeignet und
weniger lebensbedrohlich und damit weniger grundrechtsintensiv sind.
4. Einführung von Meldeauflagen bei Verdacht einer Straftat
Die Landesregierung will ermöglichen, dass sich Menschen, gegen die der Verdacht
einer begangenen Straftat vorliegt, sich täglich bei der Polizei über die Dauer
von bis zu einem Monat melden müssen. Dabei ist es nicht notwendig, dass eine
konkrete, vollendete Tat vorliegt – es reicht alleine der polizeiliche Verdacht,
dass die betroffene Person aufgrund einer Prognose eine Straftat begehen könnte.
Durch die Meldeauflage wäre der Betroffene dann gezwungen, über die Dauer der
Auflage in Reichweite der zuständigen Polizeibehörde zu bleiben, wodurch die
persönliche Freiheit, insbesondere die Bewegungsfreiheit, betroffen ist. Auch
hier handelt es sich um präventives Strafrecht, das im Widerspruch zu unseren
rechtsstaatlichen Grundwerten, insbesondere der Unschuldsvermutung, steht. Da
der Entwurf ohne einen richterlichen Vorbehalt durchführbar sein soll, steht
diese Maßnahme im freien Ermessen der Polizei und ist somit nur in begrenztem
Maße kontrollierbar.
5. Einführung von digitaler Rasterfahndung
Die Landesregierung will außerdem ermöglichen, dass die Polizei automatisierte
Big-Data-Analyse veranlassen kann, durch die Datenquellen zur Erkennung von
auffälligen Mustern zusammengeführt und ausgewertet werden sollen. Dadurch
werden die Privatsphäre und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
der von der Datenerfassung betroffenen Menschen verletzt. Insbesondere Zeugen
von Straftaten oder Kontaktpersonen von Beschuldigten können durch die
Datensammlung über den Beschuldigten Teil der Auswertung werden, ohne sich
selbst strafbar gemacht zu haben. Dabei wird in das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Da Betroffene der Datenerfassung
über diese allerdings nicht informiert werden, besteht kaum eine Möglichkeit auf
effektiven Rechtsschutz, was im Widerspruch zum Grundgedanken des Rechtsstaates
steht.
Außerdem erlaubt diese Maßnahme, dass auch öffentliche Quellen für die interne
Auswertung genutzt werden dürfen. Dadurch entsteht eine größere Datensammlung,
die als Grundlage für polizeiliche Big-Data-Auswertung und
Ergebnisinterpretation durch KI-Systeme, wie etwa durch Palantir oder dem
hessischen Modell dessen, „hessenData“ dient. Diese ermöglicht die tiefgreifende
und umfassende Rasterüberwachung aller Bürger:innen, ohne dass diese
strafrechtlich auffällig geworden wären.
Auch wenn der Innenminister, Georg Maier, in Interviews angegeben hat, dass
Palantir in Thüringen nicht zur Anwendung kommen soll, entsprechen die im
Entwurf genannten Angabe zur Transparenz, Zweckbindung und Kontrolle eines
solchen Systems nicht den Grundsätzen der Normklarheit und Verhältnismäßigkeit,
die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2023 nochmal besonders
betont und damit dem möglichen Rahmen der Rasterfahndung klare Grenzen gegeben
hat.
6. Einführung von Fahndungsinstrumenten zur Gesichtserkennung und zum
Stimmabgleich
Die Landesregierung will es der Polizei zukünftig ermöglichen,
Fahndungsinstrumente zu nutzen, durch die online Gesichtserkennungen und
Stimmabgleiche durchgeführt werden können. Dadurch wird ermöglicht, dass die
Polizei auf alle öffentlichen Daten zugreifen darf, um den vermeintlichen Störer
ausfindig machen zu können. So werden unzählige unschuldige Personen und ihre
öffentlich zugänglichen Daten durchleuchtet, die im von der Polizei verwendeten
Datensatz enthalten sind. Durch diese Eingriffsmöglichkeit wäre die digitale
Privatsphäre, die durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
besonders unter Schutz gestellt ist, hinfällig. Außerdem ist auch hier darauf
hinzuweisen, dass die Software, die zur Auslesung der Daten verwendet wird, hohe
Fehlerquoten aufweist und rassistische und sexistische Stereotype reproduziert.
Weiterhin ist auch hier durch die fehlende Mitteilung über die Durchsuchung und
Verwendung der eigenen Daten der effektive Rechtsschutz ausgeschlossen.
7. Einführung von Kennzeichenüberwachung und Erstellung von Bewegungsprofilen
Die Landesregierung will mittels der Novellierung des PAG ermöglichen, dass die
Polizei die Kennzeichen von Fahrzeugen automatisiert erfassen darf, um diese
anschließend mit den polizeilichen Datenbanken abzugleichen. Dadurch werden
tausende unverdächtige Fahrzeughalter:innen jeden Tag erfasst, ohne dass dafür
ein Grund besteht. Zwar sollen Daten, die zur Täterfahndung nicht relevant sind,
sofort gelöscht werden, allerdings besteht ein nicht von der Hand zu weisendes
Missbrauchspotential der dauerhaften und flächendeckenden Überwachung. Erhärtet
wird dies dadurch, dass auch hier kein richterlicher Vorbehalt vorgesehen ist,
der eine Kontrollinstanz darstellen könnte.
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